Top-Niveau: Jan-Hendrik Hans ist in Deutschlands Elite angekommen

Foto: Niebergall

Gießener Anzeiger vom 07.12.2013

GIESSEN – Eine persönliche Anmerkung als Einstieg mag ungewöhnlich sein, doch da sie zur Verdeutlichung hilft, sei sie an dieser Stelle erlaubt: Über die Weihnachtsfeiertage fahren wir wieder zu den Schwiegereltern. Die wohnen im Sauerland. In der Ecke von Olpe. 102 Kilometer sagt der Routenplaner über die Strecke auf der A 45. Wetzlar, Herborn, Haiger, Wilnsdorf, Siegen und Freudenberg passiert der Reisende, der eine gute Stunde unterwegs ist. Und wenn man da so fährt, schleicht sich in der Nähe von Herborn das Gefühl ein, dass sich die Strecke ganz schön ziehe.

Jan-Hendrik Hans könnte die Strecke nach Olpe auch laufen. Wenn er nach dem Frühstück aufbrechen würde, wäre er zur Kaffeezeit da. Und zwar nicht am nächsten Tag, sondern am selben. Kein Problem für den jungen Mann. Jan-Hendrik Hans ist 26 Jahre alt, stammt aus Wilhelmshaven, kam 2008 des Studiums wegen ins Mittelhessische. Mittlerweile wohnt er in Kleinlinden, hat eine 2/3-Stelle als Lehrer an der Friedrich-Feld-Schule und startet für die LG Wettenberg über Strecken, wo selbst sportlich Begabte erst einmal Bahn.de anklicken oder die nächste Busverbindung abchecken. Jan-Hendrik Hans ist Langstreckenläufer.

Langstrecken, die den Namen insofern verdienen, als dass Marathon ihm zu kurz ist. Hans läuft mindestens 50, gerne auch 100-Kilometer-Wettkämpfe: Neulich bei den Deutschen Meisterschaften in Bottrop ist er mit Philipp Müller und Philipp Nickel im Team auf Platz zwei gestürmt, was im Grunde auch „eine klasse Leistung war, aber hinterher unter der Dusche hätten wir uns schon in den Hintern beißen können, weil wir auf 50 Kilometer nur 20 Sekunden Rückstand auf den Sieger hatten.“ Das heißt knappe sieben Sekunden pro Starter, was tatsächlich einem Wimpernschlag gleichkommt.

Mit dabei war auch Ann-Katrin, die Frau des Ultra-Läufers, die „auch aus der Leichtathletik kommt, aber aufgrund einer Verletzung momentan kürzertritt“. Bei der Deutschen Meisterschaft hieß das, dass Ann-Katrin Hans das Team mit dem Fahrrad begleitete und die Versorgung organisierte. Für Hans ist das „Bananen futtern“ einiger Kollegen keine Alternative, der blonde Norddeutsche nimmt lieber Flüssigkeit zu sich, ein „Kohlehydratmix, dem ein Gel ein wenig Geschmack verleiht“. Außerdem gibt es gegen mögliche Krämpfe („da bin ich anfällig“) Salztabletten, von denen er aber auch nicht zu viele einwerfen darf, um den beanspruchten Körper nicht aus der Balance zu bringen. Er ergänzt schmunzelnd: „Beim letzten Hunderter habe ich exakt zwei Gummibärchen gegessen, um etwas im Magen zu haben.“

Es erschließt sich rasch, dass die Fächerkombination Sport/Biologie Jan-Hendrik Hans auch beim Laufen äußerst nützlich ist. Und das ihn diese Kenntnisse gepaart mit seinem herausragenden Talent jetzt schon in die deutsche Spitze katapultiert haben. Auf Rang vier der deutschen Bestenliste ist der Wettenberger Athlet über die 100 Kilometer derweil angekommen, was ihm ermöglicht, in den Nationalkader aufzurücken. Mit seiner Zeit von 7:20 Stunden hat er sich die Startberechtigung für Daugavpils in Lettland erlaufen, wo die internationale Elite am 30. August 2014 am Start sein wird. Auch auf der weltweiten Bestenliste ist Jan-Hendrik Hans mit seinen für einen Ausdauersportler vergleichsweise jungen Jahren bereits auf Rang 61 angekommen.

Auf die Frage, wie man als junger Mann auf die Idee kommt, 100 Kilometer zu laufen, lächelt Hans und antwortet recht lapidar: „Weil ich auf die Marathondistanz zu langsam für den Nationalkader war.“ So kann man das auch ausdrücken. Im Grunde sei er durch seinen Vater zum Laufen gekommen. „Ich habe mit Kampfsport angefangen, dann eine Verletzung gehabt, da hat mein Vater gesagt: komm doch mal mit in den Wald“. Der Vater laufe „just for fun“ Marathon – was ihn, wie das Gespräch zeigt, von seinem Sohn deutlich unterscheidet. Auch wenn sich dem Gelegenheitsjogger kaum erschließt, wie man „Marathon just for fun“ laufen kann. Hans betreibt Leistungssport auf allerhöchstem Niveau, sein Pensum ist enorm: „Ich laufe auf jeden Fall jeden Tag, manchmal auch zwei Mal. 200 Kilometer sind es zur Vorbereitung und reines Training 20 bis 22 Stunden pro Woche.“

Kritik am Verband

Wer weiß, dass sich mancher Verbandsliga-Kicker mit drei Mal zwei Stunden Training die Woche schon als Halbprofi fühlt, erahnt, was Hans zu leisten in der Lage ist. Wenn es Richtung Wettkampf geht, stählt er sich, indem er am Samstag 50 Kilometer und einen Tag später noch mal 50 Kilometer absolviert. „Da gehe ich ermüdet in den zweiten Lauf, das ist gutes Training für den Hunderter“, sagt Hans so lässig, als ginge es bei diesen Einheiten um einen Kegelabend in der Kneipe. Jan-Hendrik Hans vermittelt wahrlich nicht den Eindruck, er sei ein ungeselliger Nerd, der gerne einsam durch die Wälder trabe, um sich an seiner eigenen Stärke zu erfreuen. Für ihn – „ich habe jetzt auch nicht diesen geregelten Obst- und Gemüseplan, gerade nach Wettkämpfen futtere ich, was mir über den Weg läuft“ – ist die Bewältigung dieser gewaltigen Strecken eine Passion, wie sie andere beim zweistündigen Kick auf der Wiese ausleben. Er ist dabei froh, dass „ich zwar viele Kilometer allein runterholze, aber auch Kumpels habe, die ich anrufen kann, um Laufen zu gehen.“

Sechs Paar Schuhe

Zwei Hunderter und vier Fünfziger hat er im Jahr 2013 auf Wettkampfniveau absolviert, unzählige Volksläufe dazu als willkommene Trainingseinheit, wo man auch mal auf Tempo gehen kann. Sechs Paar Schuhe verbraucht er in einer Saison, die den November als Regenerationsmonat vorsieht. Bis auf „ab und an mal Achillessehnenprobleme“ hat der norddeutsche Bursche, der sich „in Gießen sehr wohlfühlt“, keine Sport-Wehwehchen. Hans, der auch als Trainer in der Kinderleichtathletik fungiert, ist mit der Unterstützung seines Vereins sehr zufrieden, sieht den Verband aber kritisch. „Dieses Jahr hätte die WM in Südafrika stattfinden sollen, leider wurde sie erstmals seit 20 Jahren abgesagt. Wenn wir aber geflogen wären, hätten wir die Hälfte des Fluges selbst zahlen müssen“, klagt der Ultra-Mann über ein System, dass „jede nicht-olympische Sportart“, egal wie viel man dafür ackern müsse, „äußerst stiefmütterlich“ behandle. „Da kommt so gut wie nichts“, sagt Hans, dessen Trainer aus Köln ihn zu den großen Wettkämpfen begleitet. Nicht einmal ein Sponsor für ein paar Schuhe findet sich. Stellt Jan-Hendrik Hans dieser Tristesse eine Philosophie gegenüber? Immerhin gelten Langstreckenläufe ja in der modernen Welt als Selbstfindungs-Trip, oder gar als eine Art Ersatzreligion? Das ist aber nicht sein Ding.

Für den Ultra-Mann ist es der Kick, sich zu verbessern. Der 26-Jährige hat da einen rein sportlichen Ansatz, den er auch hervorhebt. „Ich würde nie mit MP3-Player oder so laufen, das ist dann Breitensport.“ Und auch Städteläufe sind nicht seine Welt. „Ich laufe lieber eine schöne Waldrunde“, auch wenn sie wie beim Hunderter in Hanau-Bodenfeld neben Krämpfen ab Kilometer 89 eine weitere Überraschung parat haben können: „Ungefähr bei Kilometer 70 ist mir eine Eichel genau auf den Kopf gefallen. Und da habe ich mir gedacht, wie wahrscheinlich ist das denn?“ Zwei Gummibärchen im Bauch, eine Eichel auf den Kopf. Die 100 Kilometer ins Sauerland, so faszinierend das Leistungsvermögen von Jan-Hendrik Hans ist, fahren wir mit dem Auto.