Viele kennen die Schule nur flüchtig

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18. September 2015

Wie kann man Asylbewerber erfolgreich auf den Schulabschluss vorbereiten? Eine private Einrichtung in München macht es vor.

Im vergangenen Jahr haben nach Angaben des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge rund 4400 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Deutschland einen Asylantrag gestellt. 200 junge Flüchtlinge werden an einer etwas anderen Schule in München unterrichtet. Seit ihrer Gründung im Februar 2000 hat diese besondere Bildungseinrichtung, die sogenannte Schlau-Schule, rund 1500 Flüchtlinge im Alter zwischen 16 und 25 Jahren betreut. Michael Stenger gründete die Schule, nachdem er merkte, dass die Sprachkurszertifikate, die Flüchtlinge für die Teilnahme an seinen Deutschkursen bekamen, nicht für den Eintritt in den Arbeitsmarkt reichten. Das lag weniger an den Deutschkenntnissen als an fehlendem Unterricht in Fächern wie Mathematik, Ethik und Naturwissenschaften.

Die Schlau-Schule – Schlau steht für schulanaloger Unterricht – war laut Melanie Weber, der stellvertretenden Schulleiterin, die erste in Deutschland, die ausschließlich Flüchtlinge auf staatliche Schulabschlüsse vorbereitet. „Unsere Schüler müssen mindestens 16 Jahre alt sein, also in Bayern nicht mehr schulpflichtig sein. Sie dürfen maximal 25 Jahre alt sein, denn dann endet die Berufsschulpflicht für junge Flüchtlinge und Asylbewerber; im Durchschnitt sind sie 18 Jahre alt“, sagt Weber.

Die Regelungen zur Beschulung von jungen Flüchtlingen sind in den Bundesländern unterschiedlich. In Hessen zum Beispiel sind nach Paragraph 62 des Schulgesetzes Jugendliche, die in keinem Ausbildungsverhältnis stehen, nach Erfüllung der Vollzeitschulpflicht für die Dauer von drei Jahren, längstens bis zum Ende des Schulhalbjahres, in dem sie das 18. Lebensjahr vollenden, zum Besuch der Berufsschule berechtigt. Viele Flüchtlinge haben dieses Alter schon überschritten und somit wenig Chancen, eine staatliche Schule zu besuchen.

Doch auch in Hessen rückt die Gruppe der jungen Asylbewerber immer mehr in den Blick, auch wenn es keine Schulen nur für Flüchtlinge gibt. Seit diesem Schuljahr gibt es ein Konzept zur Sprachförderung für junge Flüchtlinge, Spätaussiedler und Zuwanderer namens InteA – Integration und Abschluss. Es richtet sich an jugendliche Seiteneinsteiger von 16 bis 18 Jahren. Es ist auch möglich, volljährige Flüchtlinge zu unterrichten, allerdings nur, wenn die Schule bereit ist, die vorgegebene Klassengröße zu überschreiten.

Die 38 Lehrerinnen und Lehrer der Münchner Schlau-Schule und ihrer Tochterschule Isus (Integration durch Sofortbeschulung und Stabilisierung) sind nicht verbeamtet und werden von der Stadt München und dem Freistaat Bayern bezahlt. Alle haben eine Qualifizierung in Deutsch als Zweitsprache oder Deutsch als Fremdsprache. Es arbeiten auch sieben Sozialarbeiter und Schulpsychologen an den beiden Schulen. Man versucht, das Selbstwertgefühl der Schüler zu stärken, die seelische Anspannung zu lindern und gesellschaftliche Orientierung zu ermöglichen. Schulträger ist der Verein Trägerkreis Junge Flüchtlinge, dessen Vorsitzender Michael Stenger ist.

Im Jahr 2013 betrugen die Sach- und Personalkosten von Schlau und Isus 1,6 Millionen Euro. Die Finanzierung wird durch Stiftungen und Privatspender unterstützt. Der Anteil der öffentlichen Finanzierung betrug knapp 70 Prozent. Unter den Sponsoren befinden sich neben der Aktion Mensch und Rotary International die BMW AG und Swiss Re, eines der weltgrößten Rückversicherungsunternehmen. Die Kosten je Schüler liegen bei 10300 Euro im Jahr. Zum Vergleich: Ein Schüler in Deutschland kostet nach Angaben des Statistischen Bundesamtes 6300 Euro im Jahr. Doch ist der Anteil der Schüler, die keinen Abschluss machen, an der Schlau-Schule besonders gering; er beträgt nur 2 Prozent.

Die Schüler können drei verschiedene Abschlüsse machen: den Mittelschulabschluss, den qualifizierenden Mittelschulabschluss und den Mittleren Schulabschluss. Nach einem erfolgreichen Abschluss werden sie weiter von der Schlau-Schule, vor allem von ehrenamtlichen Helfern, betreut. 80 Prozent der Absolventen gingen im vergangenen Jahr in Ausbildungsberufe, die anderen 20 Prozent auf Realschulen und Gymnasien.

„Im ersten Lernjahr, der Grundstufe beziehungsweise der Alphabetisierungsstufe, gibt es bis zu 20 Stunden Sprachunterricht in der Woche. Dieses Pensum wird schrittweise reduziert, jedoch unterrichten wir auch in den Abschlussklassen zwölf Stunden Deutsch als Zweitsprache“, berichtet Weber. Etwa 40 Prozent der Schüler sind anfangs Analphabeten.

In der Schule werden das Selbstvertrauen jedes Einzelnen und der Zusammenhalt durch Gruppenerlebnisse gefestigt. Gemeinsam geht man klettern oder dreht Filme etwa zum Thema Demokratie. Kooperationspartner und ehrenamtliche Unterstützer ermöglichen diese Projekte. Die Schule selbst unterstützt Flüchtlingsarbeit durch Fortbildungen für Lehrkräfte, Sozialpädagogen und Ehrenamtliche.

In Gießen, dem Standort des hessischen Erstaufnahmelagers, werden viele Flüchtlinge in der Friedrich-Feld-Schule (FFS) unterrichtet, einer kaufmännisch-beruflichen Schule, die eine von drei hessischen Modellschulen für die Beschulung von Flüchtlingen ist. Sie orientiert sich an der Arbeit der Schlau-Schule und betreute im abgelaufenen Schuljahr 160 Flüchtlinge im Alter bis zu 21 Jahren. Schulleiterin Annette Greilich wünscht sich, dass an allen Schulen Flüchtlinge bis 21 Jahre oder sogar bis 25 Jahre unterrichtet werden dürfen. „Die Schüler sind zum Teil drei, vier Jahre auf der Flucht.“ Sie seien sehr fleißig, nur einer ist im vergangenen Schuljahr durch die Hauptschulprüfung gefallen. Sie habe intensive Kontakte mit der Handwerkskammer aufgenommen, um die Flüchtlinge bei der Berufsfindung zu unterstützen, erzählt Greilich. Das Handwerk klage über Fachkräfte- und Auszubildendenmangel, und „wir haben die Menschen, die es sucht“.

Im Unterricht konzentriert man sich auf das Deutschlernen. Die Flüchtlinge lernen auch einiges über die Funktionsweise des Staates. Spezielle Projekte erleichtern das Lernen, zum Beispiel das Treffen mit Schülern des 13. Jahrgangs jeden Montag. Dort tauscht man sich über Alltägliches aus – in Deutsch.

Greilich ist es wichtig, dass die Flüchtlinge, solange sie die FFS besuchen, hierbleiben dürfen. „Der Aufenthaltsstatus ist ein Problem“, sagt sie. Ungefähr die Hälfte der aus dem Ausland Zugewanderten steckt noch mitten in dem sogenannten Clearing-Verfahren: Sie müssen an den ihnen zugeordneten Ort ziehen oder sogar zurück in ihre Heimat und somit die Schule wechseln oder verlassen.

Auch für Hussein aus Syrien ist Bildung besonders wichtig. Nach einem knappen Jahr der Flucht durch den Libanon, die Türkei und mit einem Boot über das Mittelmeer nach Italien sei er froh, in Deutschland zu sein, erzählt er. Hussein kam zusammen mit seinem jüngeren Bruder; seine Freundin starb schon in Syrien. Dort hatte der 21-Jährige sein Jura-Studium begonnen, doch als die Lage weiter eskalierte, schickte sein Vater die Geschwister nach Deutschland. „Ich bin nach Deutschland geflohen, weil die Angst vor dem Krieg, dem ,Islamischen Staat‘ und dem syrischen Staatspräsidenten Baschar al-Assad zu groß wurde.“

Die schlimmste Erfahrung für Hussein waren die dreizehn Tage auf einem Flüchtlingsboot. Nach einer Woche ging das Essen aus, und durch die hohen Wellen vermischte sich das Trinkwasser mit dem salzigen Meerwasser. „Ich würde allen Leuten erzählen, dass ich ihre Situation verstehe, und trotzdem würde ich ihnen raten, nicht mit dem Boot zu fliehen.“ Sein Vater verkaufte für die Flucht seiner Söhne das Haus und kaufte ein kleineres. Trotzdem war nicht genug Geld für die Flucht der ganzen Familie da; allein für die beiden Brüder hätten sie umgerechnet 15000 Euro bezahlt, erzählt Hussein.

Er fühlt sich in Deutschland willkommen. „Mein Bruder hat schnell Deutsch gelernt, er geht in Gießen zur Schule. Ich warte noch auf meine Papiere, wenn ich die habe, darf ich weiterstudieren“, sagt er und fügt hinzu: „Ich bin Deutschland wahnsinnig dankbar.“

Nele Gromes
Landgraf-Ludwigs-Gymnasium, Gießen