»Perspektive muss da sein«

Interview s. unten aus: Gießener Anzeiger vom 05.11.2015

Gießener Allgemeine Zeitung vom 20.11.2015, S. 29

»Perspektive muss da sein«

Bildungsforum mit Forderungen zur Integration von Flüchtlingen in Arbeit und Ausbildung

G i e ß e n (pm). Um sich über die »Integration von Flüchtlingen in Arbeit und Ausbildung « auszutauschen, hatte das Netzwerk Bildung im Regionalmanagement Mittelhessen ins Kinopolis geladen. Über 120 Personen kamen zum 4. »Mittelhessischen Bildungsforum « um mit Experten und Betroffenen zu sprechen und gute Beispiele aus der Praxis kennenzulernen. Als Einstieg schilderten fünf Schüler der Friedrich-Feld-Schule ihre Schicksale: sie waren aus Afrika, Syrien und Afghanistan geflohen und lernen nun in Partnerschaft mit Schülern der 13.Klasse, die auch als Übersetzer dienten, Deutsch. Schulleiterin Annette Greilich verdeutlichte den Nutzen: »Das ist nicht unbedingt die Sprache aus dem Lehrbuch, aber danach können sie sich wirklich verständigen.« Sie bat nachdrücklich darum, umgehend den Schulbesuch auch von über 18-Jährigen zu ermöglichen: »Oft jahrelang auf der Flucht stehen sie bei uns im Sekretariat und sagen ›Ich Schule!‹ Wir müssen hier die bürokratischen Hürden senken.«

Das Wort »Bleibeperspektive« fiel öfters, Dr. Stephan Hocks von der Justus-Liebig-Universität berät zusammen mit mittelhessischenStudierenden Flüchtlinge in der sogenannten Refugee Law Clinic. »Inzwischen sind das nicht nur Jura-Studierende, sondern auch Psychologen und Konfliktforscher«, berichtete der Rechtsanwalt. Das Angebot, mit dem die geschulten Studierenden zugleich Praxis-Erfahrungen sammeln können, soll auf weitere Standorte der Erstaufnahmeeinrichtung ausgeweitet werden.

Regierungspräsident Dr. Christoph Ullrich berichtete von den Zahlen, mit denen es die Mitarbeiter seiner Verwaltung zu tun haben. 2007 blieben insgesamt 774 Flüchtlinge in Hessen. Mittlerweile seien solche Ankunftszahlen an einem Tag keine Seltenheit. Burghard Loewe von der IHK Lahn-Dill und Björn Hendrischke von der Kreishandwerkerschaft Gießen zeigten mit Angelika Berbuir von der Agentur für Arbeit Limburg-Wetzlar als Experten, wo die Unternehmen bei der Aufnahme der sehr unterschiedlich ausgebildeten Kräfte der Schuh drückt: »Wer eine Maschine bedient, muss die Sicherheitshinweise verstehen«, fasste Hendrischke die zentrale Forderung nach mehr Deutschkursen für die potenziellen Fachkräfte zusammen.

Abderizak Ahmad hatte sechs Jahre vergeblich versucht, Arbeit zu finden, inzwischen ist er Auszubildender zum Maler und Lackierer in Butzbach und schilderte im Gespräch mit Moderator Carsten Jens vom Hessischen Rundfunk plastisch seine Schwierigkeiten auf diesem Weg. Eine ganz andere Perspektive vermittelte Bayran Achmed mit seinem »Lied für Kobane«. Gemeinsam mit dem Wetzlarer Musiker Marco Henrich und einer syrischen Gruppe hat er die Gräueltaten in seiner Heimatstadt, aber auch die Hoffnung auf eine Zukunft vertont und zeigte das bewegende Video dazu auf der großen Kinoleinwand.

Jo Dreiseitel, Staatssekretär im hessischen Sozialministerium und Bevollmächtigter für Integration und Antidiskriminierung, stellte die Initiativen Hessens vor und lobte die Aktivitäten auf mittelhessischer Ebene: »Sie können damit Vorbild für andere sein.« Dr. Martin Pott, Vorsitzender des Netzwerks Bildung, dessen Arbeitskreis die Veranstaltung konzipiert hatte, stellte schließlich die Forderungen zur Sprachförderung, Berufsorientierung und zu Voraussetzungen für die heimische Wirtschaft in Appell-Form vor: »Für Mittelhessen ist die Integration von Flüchtlingen in Ausbildung, Studium und Arbeit nicht nur eine gewaltige Herausforderung, sondern auch eine große Chance.
Viele Flüchtlinge bringen Talent, Motivation und Leistungskraft mit. Vor allem die ausbildenden Unternehmen aus Handwerk und Industrie können Praktika und Lehrstellen bieten. Wichtig für die Betriebe ist aber Rechtssicherheit. Eine schnelle Klärung des Aufenthaltsstatus ist nötig. Und es muss eine Perspektive da sein, nach drei Jahren Berufsausbildung muss eine Weiterbeschäftigung für mindestens zwei Jahre möglich sein.«

Jens Ihle, der Geschäftsführer des Regionalmanagements, hofft auf viele positive Effekte des Bildungsforums für Mittelhessen: »Über die Bewältigung der größten Flüchtlingswelle seit dem Zweiten Weltkrieg hinaus brauchen wir Perspektiven der Integration. Ich glaube, dass wir durch die gemachten Erfahrungen gut voneinander lernen können. Am Ende profitieren alle davon.«

[divider  style=“simple“]

Gießener Anzeiger vom 05.11.2015, Seite 13

FORDERUNG Annette Greilich kritisiert aktuelle Bildungspolitik für junge Flüchtlinge / Sprache als Schlüssel / Viel Zuspruch

Von Christian Rüger

Giessen. Es war einer der wenigen Momente beim „Mittelhessischen Bildungsforum“, bei dem gestern spontan Beifall im Saal des Kinopolis aufbrandete. Annette Greilich hatte die Gunst der Stunde einer Talkrunde genutzt, um ihre Kritik direkt an Staatssekretär Jo Dreiseitel zu richten. In den Mittelpunkt ihrer Forderung hatte die Leiterin der Friedrich-Feld-Schule die unzureichende Sprachförderung im Allgemeinen sowie die dringend notwendige Förderung heranwachsender Flüchtlinge im Alter von 18 bis 25 Jahren gestellt. Auch nach der Veranstaltung bekam sie im Foyer noch Zuspruch für „ihren mutigen Schritt“. Ein Grund für den Anzeiger, noch einmal nachzuhaken.

Beim „Mittelhessischen Bildungsforum“ haben Sie für Ihre Kritik an der aktuellen Bildungspolitik für junge Flüchtlinge viel Applaus erhalten. Können Sie Ihre Forderung noch einmal genauer erläutern?

Zu den aktuellen Deutschfördermaßnahmen für Flüchtlinge gehört das InteA-Programm. Danach dürfen wir nur Schüler unter 18 Jahren aufnehmen. Häufig sind die jungen Menschen aber drei bis vier Jahre auf der Flucht und haben in dieser Zeit keinen Unterricht. Wenn nun im Sekretariat der Friedrich-Feld-Schule ein junger Flüchtling ankommt, der 18 Jahre und wenige Tage alt ist, darf er nicht am Unterricht teilnehmen. In meinen Augen ist das eine Zumutung. Das treibt mir wirklich die Zornesröte ins Gesicht. Die jungen Menschen sitzen dann in Gemeinschaftsunterkünften und kommen auf dumme Gedanken.

Was wäre Ihr Vorschlag?

Sprachförderung und der deutsche Sprachgebrauch sind das A und O, um sich zu integrieren und für eine Ausbildung fitzumachen. Ich glaube, das InteA-Programm greift zu kurz und sollte auf Flüchtlinge bis 25 Jahre ausgeweitet werden.

Und wie ist die Reaktion der Politik auf Ihren Vorschlag?

Ach, wissen Sie, die Politik hat dafür schon offene Ohren, aber die Antwort lautet immer: „Das kostet doch alles.“ Wir können die Situation bestimmt eine Zeit lang mit dem Ehrenamt wuppen. Das geht aber nicht über Jahre. Ich denke, dass ein bisschen mehr Geld seitens des Bundes, aber auch des Landes Hessen investiert werden sollte. Deutschland ist schließlich ein reiches Land.

Seit wenigen Tagen ist vom Clearing- auf das Screening-Verfahren umgestellt worden. Sie haben an der Friedrich-Feld-Schule auch junge Flüchtlinge aus Clearinggruppen betreut. Inwieweit sind Sie von der Änderung betroffen?

Mit den Screening-Verfahren soll die Bearbeitung der Anträge künftig auf maximal 28 Tage reduziert werden. In dieser Zeit macht es natürlich keinen Sinn, dass die jungen Menschen die Schule besuchen. Mir ist aber auch vollkommen schleierhaft, wie das Verfahren eingehalten werden soll. Beim sogenannten Clearing waren drei Monate Bearbeitungszeit eingeplant, doch durch den Rückstau beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat das Verfahren teilweise 18 Monate gedauert. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jetzt vier Wochen reichen sollen.

Ein weiterer Kritikpunkt Ihrerseits ist also das lange Verfahren.

Hier müssen wir wirklich viel schneller werden. Ich habe Schüler bei mir im Unterricht sitzen, die müde vor sich hinstarren. Dann erzählen sie mir, dass in wenigen Wochen die Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis ausläuft. Das belastet die jungen Menschen. Sie haben Angst und schlafen schlecht. Foto: Scholz