Schreibtisch adé: Annette Greilich will mehr Zeit mit ihren Enkeln verbringen und ihr Handicap verbessern. Foto: Czernek

Gießener Anzeiger vom 31.01.2023, Seite 19

»Bürokratie behindert Schulentwicklung«

Annette Greilich geht nach 22 Jahren im Schuldienst in den Ruhestand. Zuletzt war sie Leiterin der Wirtschaftschule am Oswaldsgarten in Gießen. Im Interview zieht sie Bilanz.

von BCZ

Gießen. Annette Greilich, Schulleiterin der Wirtschaftsschule am Oswaldsgarten, geht heute in Ruhestand. Seit 2001 war sie im Schuldienst, davon 14 Jahre Mitglied einer Schulleitung, zunächst an der Max-Weber-Schule als stellvertretende Leiterin, von 2011 bis jetzt leitete sie die Wirtschaftsschule am Oswaldsgarten. Der 31. Januar ist ihr letzter Arbeitstag.

Frau Greilich, Sie sind 1958 in Hamburg geboren und dort auch zur Schule gegangen. Wie sind Sie nach Hessen und nach Gießen gekommen?

Ich wollte Ökotrophologie studieren und die ZVS hat mich 1979 nach Gießen geschickt. Eigentlich hatte ich vor, in Kiel zu studieren und wurde – wie viele – nach Gießen verschickt. Hier habe ich meinen späteren Mann kennengelernt und bin geblieben.

Sie studierten Ökotrophologie. Wie kamen Sie mit diesem Fach in den Schuldienst?

Ich habe als zweites Fach Englisch studiert und habe zusätzlich zum Diplom auch das erste und zweite Staatsexamen abgelegt. Das war möglich und ich bin der Überzeugung, dass man, wenn Bildungsabschlüsse angeboten werden, die Chance nutzen sollte, denn Deutschland lebt und liebt Bescheinigungen.

Ihr Studium und Ihr Referendariat haben Sie 1987 abgeschlossen, aber erst 2001 sind Sie in den Schuldienst gewechselt. Was geschah in der Zwischenzeit?

1987 bekam man nicht so einfach eine Stelle und schon gar nicht direkt in Gießen, zudem war ich zu diesem Zeitpunkt zweifache Mutter und mein Mann hatte sich gerade als Rechtsanwalt und Notar niedergelassen. Schule und zwei kleine Kinder – das war schon im Referendariat schwierig. Daher habe ich mich bewusst für Familienzeit entschieden, habe in der immer größer werdenden Kanzlei meines Mannes mitgearbeitet. Der große Vorteil, ich konnte meine Zeit flexibel gestalten. 2001 konnte ich zunächst als Teilzeitkraft an der Max-Weber-Schule anfangen, ab 2005 habe ich mit voller Stundenzahl gearbeitet. 2009 wurde ich stellvertretende Leiterin der Max-Weber-Schule, bevor ich quasi über den Schulhof als Schulleiterin der Wirtschaftsschule am Oswaldsgarten wechselte.

Sie sind ein bekanntes Gesicht in der Gießener FDP. Wie kamen Sie gerade zu dieser Partei?

Schon in Hamburg wusste ich, dass das meine Partei ist. Als ich nach Gießen kam, bin ich direkt eingetreten. Auf einer FDP-Veranstaltung habe ich meinen Mann kennengelernt. Ich habe mich gern politisch engagiert, zunächst im Ortsbeirat Kleinlinden, dann im Stadtparlament. Zudem war ich noch in verschiedenen Ausschüssen und Kommissionen, zuletzt auch Mitglied der Enquetekommission des Bundestages für »Berufliche Bildung in der digitalen Welt«. Heute bin ich nur noch einfaches Mitglied. Irgendwann muss man einfach auch Jüngere ranlassen.

Gab es Gründe, warum Sie 2011 nicht mehr kandidierten?

Ja, 2011 war das Jahr, in dem ich Schulleiterin geworden bin. Ich halte es für einen Interessenskonflikt, wenn man auf der einen Seite Schulleiterin ist und auf der anderen Seite über den Etat dieser Schule im Parlament mitbeschließt. Daher habe ich den Schlussstrich gezogen. Den Schritt habe ich nicht bereut.

Thema Schule: Wie fällt das Resümee Ihrer Arbeit aus?

Ich habe es immer als sehr hilfreich empfunden, dass ich einige Jahre in der Wirtschaft gearbeitet habe. Auch meine Ausbildung war so ausgelegt, dass ich sowohl als auch arbeiten konnte. Das halte ich für sehr wichtig. Gerade an einer beruflichen Schule ist es gut zu wissen, wie Wirtschaft funktioniert.

Wie sehen Sie Ihre Aufgaben als Schulleiterin?

Die gesamte Schulleitung hat unglaublich viel mit der Bürokratie zu kämpfen und Corona hat dem noch die Krone aufgesetzt. Es ist sehr mühselig, für was wir alles Meldungen abgeben müssen. Der riesige Berg an Bürokratie hindert uns daran, im Bereich der Schulentwicklung voranzukommen. Ich weiß, dass die Mittel der Stadt für die Schulen sehr knapp sind. Doch gerade darin muss mehr investiert werden. Die Verhandlungen mit den verschiedenen Ämtern, besonders dem Hochbauamt, gestalten sich immer sehr langwierig. Es dauert einfach viel zulange, bis irgendetwas passiert. Wir hatten beispielsweise jahrelang verhandelt, bis endlich die Klassenräume und Flure neu gestrichen wurden. Das zermürbt. Das hat auch meinen Entschluss bekräftigt, ein Jahr früher als normal in den Ruhestand zu gehen.

Als Schulleiterin stehen Sie im Spannungsfeld zwischen den organisatorischen Aufgaben und Ihrem eigentlichen Lehrerberuf. Wie sehen Sie das?

Eigentlich hat man da permanent ein schlechtes Gewissen gegenüber seinen Schülern. Man glaubt diesen nicht gerecht zu werden, da der Verwaltungsaufwand und der Termindruck enorm hoch sind. Allerdings braucht man auch den Kontakt zu den Schülern, um zu wissen, was in ihnen vorgeht. Es ist ein zweischneidiges Schwert. Ich kenne jetzt leider oft nur zwei Typen von Schülern: die einen, die eine Auszeichnung bekommen haben oder die etwas ausgefressen haben und deshalb vor mir stehen.

Hat sich das Verhalten der Schüler im Laufe der Jahre verändert?

Insgesamt sind die Schüler heute weniger konfliktfähig. Sie können weniger gut mit Misserfolgen umgehen. Auch hier hat Corona bei bestimmten Verhaltensmustern noch die Krone aufgesetzt. Der Zugang zu ihnen ist heute um ein Vielfaches schwerer als früher. Wir haben es heute häufig mit psychisch hochbelasteten Menschen zu tun.

Wie sehen Sie Ihre Schule im Vergleich zu den anderen weiterführenden Schulen?

Wir haben rund 1100 Schüler aus 30 Nationen, davon sind rund 200 Flüchtlinge, die auf elf Integrationsklassen verteilt sind. Das sind mehr als in der Flüchtlingskrise 2015. Damals besuchte uns Bundespräsident Joachim Gauck. Das war eine beeindruckende Begegnung, an die wir alle gern zurückdenken. Aus den damals gewonnen Erfahrungen profitieren wir heute. Daneben wird leider unser berufliches Gymnasium oft unterschätzt. Hier kann man ebenso wie an allen Gymnasien seine allgemeine Hochschulreife erlangen. Ich weiß, dass für viele Schüler hier der richtige Platz ist.

Was geben Sie Ihrem Nachfolger oder Ihrer Nachfolgerin mit auf den Weg?

Ich wünsche, dass er oder sie sich bei den entsprechenden Stellen durchsetzen kann, dass die Pläne für eine moderne und zeitgemäße Pädagogik auch wirklich baulich umgesetzt werden. Auch der Neubau einer Schulsporthalle ist dringend erforderlich. Leider sind die Vorschläge für ein großes, für alle Innenstadtschulen gemeinsam nutzbares Schulsportzentrum bisher auf taube Ohren gestoßen. Aber hoffen kann man ja.

Was werden Sie ab dem 1. Februar tun?

Ich lasse es auf mich zukommen. Pläne haben mein Mann und ich sehr viele. Wir wollen reisen, uns um unsere Enkel kümmern und unser Handicap beim Golfen verbessern.

Am Dienstag wird Annette Greilich offiziell als Leiterin der Wirtschaftsschule am Oswaldsgarten verabschiedet. FOTO: SCHEPP

Gießener Allgemeine vom 30.01.2023, Seite 8

»Für junge Menschen arbeiten«

Annette Greilich hat viele Jahre lang die Geschicke der Gießener Wirtschaftsschule am Oswaldsgarten geleitet. Am morgigen Dienstag wird sie offiziell verabschiedet. Im Interview spricht sie über die Herausforderungen, vor denen Berufschulen heute stehen, über die fehlende Wertschätzung dieser Schulform – aber auch über die Chancen, die sie den Schülern bietet.

von Kays Al-Khanak

Frau Greilich, in Ihre Zeit als Schulleiterin zählten das Jubiläum »100 Jahre kaufmännische Bildung am Oswaldsgarten« und die Umbenennung der damaligen Friedrich-Feld-Schule in Wirtschaftsschule am Oswaldsgarten sicherlich zu den wichtigen Ereignissen, oder?

Annette Greilich: Ja, das trifft es gut. 100 Jahre kaufmännische Bildung an diesem Standort war ein wichtiges Ereignis. Und nachdem klar war, dass Friedrich Feld ein Nazi war, haben wir ein halbes Jahr benötigt, bis die Schule einen neuen Namen hatte.

Das ging zügig.

Ja, wenn man das mit der Diskussion ums damalige Otto-Eger-Heim vergleicht, war das gigantisch schnell. Das hat mich sehr gefreut. Der Name gibt wieder, was wir sind und wo wir sind. Ich hatte damals gesagt, ich möchte niemandem nach mir eine solche Namensänderung zumuten. Deshalb hatten wir uns damals in der Schulgemeinde auf einen unverfänglichen Namen geeinigt.

In Gießen werden sehr viele Berufsschüler unterrichtet. Aber man wird das Gefühl nicht los, dass dieser Umstand kaum Beachtung findet.

Das ist eine absolut richtige Einschätzung, wobei ich sie nicht auf Gießen beschränken würde. Sie ist in ganz Hessen und auch im Kultusministerium vertreten, was außerordentlich bedauerlich ist. Denn die Berufsschulen sind die Schulen, die von den meisten jungen Menschen im Land besucht werden, weil wir so vielfältig sind. Es ist schade, wie wenig Wert ihnen beigemessen wird. Wenn Sie sich überlegen, dass von den Abiturienten jeder zweite eine Ausbildung anfängt und damit eine Berufsschule besucht, wissen Sie, dass diese Einrichtungen unendlich wichtig sind und in ihrer Bedeutung für die Ausbildung und das Erwachsenwerden von jungen Menschen unterschätzt werden. Das bedauern wir Berufsschulleiter und die Lehrkräfte außerordentlich.

Woran machen Sie die Vernachlässigung fest?

Das bemerkt man an der Ausstattung der Schulen oder an der Versorgung mit Lehrkräften. Die Lehrerinnen und Lehrer der beruflichen Schulen fühlen sich oft nicht wertgeschätzt. An anderen Gymnasien wird auch gefragt: »Kann man bei euch auch ein richtiges Abitur machen?« Natürlich kann man das. Das sind so Dinge, die einen ärgern.

Wie kann Berufschulen die Wertschätzung zuteil werden, die sie verdienen?

Man sollte sie nicht immer nur als fünftes Rad am Wagen betrachten. Außerdem sollte besser über sie informiert und uns die Chance gegeben werden, über uns zu informieren. Wir werden oft von Informationsabenden ausgeladen, an denen es zum Beispiel um den Übergang von der Jahrgangsstufe zehn in die Jahrgangsstufe elf geht.

Haben Berufschulen nicht auch angesichts des allgemeinen Fachkräftemangels eine besondere Bedeutung im Bildungssystem?

Natürlich, und zwar nicht nur als Berufsschule, sondern auch als berufliche Schule. Das heißt, wir bieten allen, die an den allgemeinen Schulen nicht so gut zurechtgekommen sind, eine Chance, neu anzufangen. Uns zeichnet auch aus, dass in den Klassen junge Menschen sitzen, die von Förderschulen kommen, aber auch solche, die ihr Abitur gemacht haben.

Was macht die Wirtschaftsschule am Oswaldsgarten aus?

Die Stärke der Schule ist ihr Kollegium, das sich sehr für die Schülerinnen und Schüler engagiert, das sieht man in all unseren Schulformen. Für uns ist es wichtig, dass sie erfolgreich und eigenverantwortlich in die Zukunft blicken und eine vernünftigen Abschluss machen können. Das gilt übrigens für alle, die hier an der Schule arbeiten. Wir haben mittlerweile drei Sozialarbeiter, die Berufsberatung vom Arbeitsamt oder Berufsbegleiter. Mit dem multiprofessionellen Angebot können wir die Schülerinnen und Schüler umfänglich unterstützen.

Vor welchen Herausforderungen steht die WSO in der Zukunft?

Wichtig wird es sein, die Schule zusammenzuhalten. Es müssen alle zusammenarbeiten – von denjenigen, die das berufliche Gymnasium besuchen bis zu denen, die in Bildungsgängen zur Berufsvorbereitung oder in den Seiteneinsteigerklassen sind. Und wir müssen sehen, dass das berufliche Gymnasium als Oberstufe der Stadt Gießen anerkannt wird. Das wird eine besondere Herausforderung für jeden, der nach mir kommen wird. Das war aber eine Herausforderung, die schon existierte, als ich hier 2011 angefangen habe.

Das sind ziemlich dicke Bretter, die da weiterhin gebohrt werden müssen.

Definitv. Aber das Leben ist kein Wunschkonzert. Mir hat es immer ganz viel Spaß gemacht, mit den Lehrkräften zusammen für junge Menschen zu arbeiten. Das ist das Besondere und das Schöne am Beruf des Lehrers und des Schulleiters. Ich wünschte nur, ich müsste nicht so viel Zeit für den fürchterlichen Bürokratismus aufwenden, der uns beschäftigt. Das macht einen mürbe, weil man nicht zu dem kommt, was man eigentlich möchte: Die Schulentwicklung vorantreiben und junge Menschen fördern.

Info

Seit 2011 an der WSO | Annette Greilich kam 2011 als Schulleiterin an die heutige Wirtschaftsschule am Oswaldsgarten. Zuvor war sie an der Max-Weber-Schule. Aktuell besuchen die Einrichtung 1100 Schülerinnen und Schüler, davon gehen 200 in die Klassen für Geflüchtete.