Vertiefen ihr Wissen im Rechnungswesen: Schülerinnen und Schüler der Wirtschaftsschule am Oswaldsgarten. Foto: Zielinski

Gießener Anzeiger vom 14.04.2021

GIESSEN – Gießen. Nicht alle Schülerinnen und Schüler kommen gut mit dem „Homeschooling“ klar. Um Mädchen und Jungen zu unterstützen, die in den vergangenen Monaten Pandemie-bedingt nur eingeschränkte Lernmöglichkeiten hatten, bietet das Hessische Kultusministerium an 200 Schulen in Hessen während der Osterferien freiwillige Lerncamps an. Ziel soll es sein, verpassten Lernstoff nachzuholen oder zu vertiefen. Dabei kann jede Schule selbst entscheiden, ob sie ein solches für die Kinder und Jugendlichen kostenfreies Lerncamp anbietet. Die Camps werden von den Schulen in Eigenregie organisiert und können in einem variablen Zeitraum stattfinden. Das Angebot richtet sich an Schüler aller Klassenstufen und kann sowohl in Präsenz als auch digital durchgeführt werden. Das jeweilige Fächerangebot orientiert sich dabei an der individuellen Bedarfslage der Schulen und wird überwiegend von schuleigenem Fachpersonal vermittelt.
Während im Landkreis keine Lerncamps angeboten werden, beteiligen sich gleich drei Gießener Schulen an der Aktion. Eine davon ist die Alexander-von-Humboldt-Schule (AvH) im Gleiberger Weg. An vier Tagen bekommen hier 20 Schüler*innen – auf zwei Klassen verteilt – je sechs Stunden pro Tag Unterricht. Während in den ersten vier Stunden jeweils Deutsch und Mathe gelernt werden, sind die fünfte und sechste Stunde einer Übungszeit mit Betreuung vorbehalten.
„Hier werden die Schüler der zehnten Klassen gezielt auf ihre Abschlussprüfungen in Deutsch und Mathe, aber auch in Englisch vorbereitet“, erklärt Schulleiter Markus Koschuch. Die Initiative, an dem Lerncamp teilzunehmen, war von der Deutschlehrerin Ann-Kathrin Odenwald und ihrem Kollegen, Mathelehrer Thomas Gawel, ausgegangen. „Beide opfern ihre Ferienzeit, um für ihre Schüler da zu sein“, lobt Koschuch, der vom Engagement seiner Lehrkräfte begeistert ist. Es sei zwar im Vorfeld jede Menge Papierkram gewesen, die Mühe habe sich aber gelohnt.
Normalerweise wären in den beiden zehnten Klassen 36 Mädchen und Jungen. Da die Lerncamps aber auf Freiwilligkeit beruhen, haben nicht alle das Angebot angenommen. „Meine Mutter war sehr dafür, dass ich am Lerncamp teilnehme“, erzählt der 17-jährige Justin Tischer. „Vor allem die Wiederholungen in Mathe, wie beispielsweise die Berechnung von Flächeninhalten, bringen mir viel.“
Auch die Eltern von Fatima Ahmadi fanden es wichtig, dass ihre Tochter das Angebot wahrnimmt. „Leider ist viel Unterricht ausgefallen und ich muss gerade in Deutsch viel lernen, da ich erst seit fünf Jahren in Deutschland lebe“, sagt die 17-Jährige. Alle sind sich einig, dass das gemeinsame Lernen in der Schule mehr Spaß macht als alleine zuhause vor dem PC zu sitzen. Markus Koschuch steht in ständigem Kontakt mit dem Schulamt, dem Gesundheitsamt und der Stadt Gießen. „Alle Schülerinnen und Schüler werden jeden Morgen getestet“, betont er. „Bei uns gilt die höchste Sicherheitsstufe.“ Den letzten positiven Fall, der allerdings auf das private Umfeld zurückzuführen sei, habe die 250 Schüler zählende Mittelstufenschule am 31. November vergangenen Jahres gehabt. „Die Schüler sind sehr diszipliniert“, freut er sich. Für nach den Ferien wünscht sich der Schulleiter Wechselunterricht, denn Präsenzunterricht sei durch nichts zu ersetzen. „Aber egal, wie es weitergeht, unsere Konrektorin Nathalie Wöll hat für jede Eventualität bereits Pläne in der Schublade“, erklärt er.
Die Wirtschaftsschule am Oswaldsgarten beteiligt sich ebenfalls mit verschiedenen Kursangeboten am Lerncamp. So unterrichtet Lehrerin Gülay Kas zehn Schüler der einjährigen Höheren Handelsschule im Fach Rechnungswesen. Zehn der normalerweise 17 Schüler hören ihren Ausführungen aufmerksam zu. „Der Bedarf ist auf jeden Fall vorhanden“, betont Gülay Kas.
„Ich habe mich selbst angemeldet“, berichtet Abulfaizal Razaie. „Man vergisst doch manche Dinge sehr schnell und ich finde es gut, dass hier alles noch einmal wiederholt wird.“ Darüber hinaus hat der 20-Jährige, der gerne Polizist werden möchte, seine Schulkameraden vermisst. „Der Online-Unterricht war nicht so gut, es gab oftmals technische Probleme. Es ist einfach besser, wenn der Lehrer direkt vor einem steht“, bestätigt auch der 18-jährige Linus Eisler, der im kommenden Jahr sein Fachabitur machen möchte. „Ich möchte mich nach der Schule in der Gastronomie selbstständig machen, da ist es wichtig, Rechnungswesen und Wirtschaftslehre gut zu beherrschen“, begründet der 19-jährige Moha Momand Dawoodzai seine Entscheidung, teilzunehmen.
„Wir hoffen, mit der Teilnahme durch die Pandemie entstandene Defizite bei den Schülern, die kurz vor ihrer Abschlussprüfung stehen, zu kompensieren“, unterstreicht Ralf Siebert, Mitglied der Schulleitung und Abteilungsleiter für die Sprachförderungsmaßnahme InteA. Distanzunterricht könne Unterricht in Präsenz eben nicht ersetzen. „Das Lerncamp ist eine gute Alternative zum normalen Unterricht“, erklärt er. In seiner Englischlerngruppe sind neun der normalerweise 13 Schüler anwesend. Geübt wird das eigenständige Schreiben, Zusammenfassen und Diskutieren von Texten unter anderem zum Thema Globalisierung. „Die Schüler befinden sich alle auf der Zielgeraden zu ihren Abschlussprüfungen Ende April, Anfang Mai“, betont Siebert. Auch das eigenständige Arbeiten würde gefördert. So könnten die Schüler die gestellten Aufgaben zuhause weiterbearbeiten und ihm ihre Lösungen zuschicken.
Insgesamt bietet die Wirtschaftsschule am Oswaldsgarten im Rahmen des Lerncamps zehn Präsenzveranstaltungen an. Hinzu kommen nach Auskunft von Ralf Siebert weitere in Distanz. Auch die Max-Weber-Schule veranstaltet ein Lerncamp.