Herzblut für andere

Gießener Allgemeine vom 04.04.2017, Seite 25

Berina Akin bringt als kleines Kind ihrer schwerhörigen Schwester die deutsche Sprache bei. Immer wieder denkt sich die Gießenerin neue Spiele und Ideen aus – und hält so den Spaß am Unterricht aufrecht. Ihre Erfahrung und ihr Talent setzt sie heute ein, um Flüchtlingen das Lesen und Schreiben beizubringen.

Von Stefan Schaal

Ein lautes Lachen dringt aus einem Klassenzimmer der Wirtschaftsschule am Oswaldsgarten. Vorne an der Tafel stehen zwei Jugendliche. Unter den Blicken von 14 Mitschülern gehen sie langsam aufeinander zu. »Hi«, sagt einer von ihnen. »Alles klar?« Kurz darauf wiederholen die beiden die Situation, nun setzen sie ernstere Mienen auf. »Guten Tag«, lautet jetzt die förmliche Variante des Grußes. »Wie geht es Ihnen?« Die jungen Flüchtlinge in dem Klassenzimmer lernen Deutsch. Ihre Lehrerin denkt sich ständig Szenen, Spiele und Tricks aus, um den Unterricht spannend zu gestalten. Es ist das große Talent der Gießenerin Berina Akin. Schon als kleines Kind hat sie Methoden entwickelt, um ihrer schwerhörigen Schwester die deutsche Sprache beizubringen.

Vor wenigen Tagen wurde die 26-jährige Wieseckerin mit dem Ehrenamtpreis ausgezeichnet. »Manchmal werde ich gefragt, warum mir die Arbeit mit Flüchtlingen so liegt«, erzählt sie. »Ich schließe die Schüler ins Herz. Das hat auf jeden Fall etwas mit meiner Familiengeschichte zu tun.«

Akin ist selbst ein Flüchtlingskind. Ihre Eltern verließen in den 80er Jahren die Heimat im kurdischen Teil der Türkei aufgrund von religiöser Verfolgung. Die jesidische Familie landete in Gießen. Berina wurde hier geboren. Sie und ihre zwei Jahre jüngere Schwester sind die Nesthäkchen der Familie. Während die sechs älteren Geschwister das Zuhause verlassen haben und eigene Familien gründen, übernimmt Berina Verantwortung. »Meine Mutter ist Hausfrau, mein Vater hat am Bau gearbeitet. Sie haben wenig Deutsch gesprochen«, blickt sie zurück. Mit zehn Jahren übernimmt sie daher den gesamten Schriftverkehr der Familie. Sie schreibt Briefe an Behörden und Schulen.

Und vor allem unterstützt sie ihre von Geburt an schwerhörige Schwester. »Sie hat Gebärdensprache gelernt«, erzählt Akin. »Sie konnte von den Lippen lesen.« Das Formulieren von Sätzen aber sei ihr schwergefallen. Zusätzlich übt Akin mit ihr deshalb immer wieder das Sprechen und Schreiben. »Langsam und mit viel Geduld haben wir einfache Sätze durchgesprochen.« Sie denkt  sich immer wieder Spiele aus, um ihre Schwester bei Laune zu halten.

Als die jüngere Schwester an Diabetes erkrankt und regelmäßig im Krankenhaus behandelt werden muss, wird Akin mit 18 Jahren ihre gesetzliche Betreuungsperson. Solche familiären Situationen können so manchen zermürben. Akin aber wächst daran und setzt ihr Talent ehrenamtlich ein. 2013 macht sie ein zweiwöchiges Praktikum für das Projekt »Dazulernen«, das jugendliche Flüchtlinge und Schüler an der Wirtschaftsschule am Oswaldsgarten zusammenführt. Bis heute ist sie in dem Projekt aktiv. Darüber hinaus gab sie Alphabetisierungskurse für Flüchtlinge, noch lange vor dem Strom an Zuwanderern und vor der großen Welle der Hilfsbereitschaft. »Bei mir im Unterricht sind die Schüler immer aktiv«, erklärt die Gießenerin. Den Jugendlichen zeigt sie zum Beispiel ein selbst gemaltes Bild. »Salat«, sagt ein Schüler. Und schreibt das Wort anschließend an die Tafel.

Akin hat gerade ein Studium der Wirtschaftspädagogik abgeschlossen. Im Mai tritt sie ein Referendariat zur Berufsschullehrerin an. Sie will aber nicht nur ehrenamtlich, sondern auch beruflich Flüchtlinge unterrichten. Im Oktober plant sie, neben dem Referendariat ein Aufbaustudium zu absolvieren. »Ich habe einmal erlebt, wie ein traumatisierter Jugendlicher aus Afghanistan kein Wort gesprochen hat«, erzählt die Wieseckerin. »Er hat jede Berührung abgelehnt. Dann aber hat er irgendwann angefangen, Vertrauen zu gewinnen. Und er hat geredet. Solche Geschichten berühren.« »Außerdem«, fügt Akin hinzu, »sagen Flüchtlinge oft Danke und schütteln einem sogar die Hand. Das passiert im normalen Schulunterricht nie.«

Mit Ehrenamtpreis gewürdigt

Die Gießenerin Berina Akin wurde soeben mit dem Ehrenamtpreis der Bürgerstiftung Mittelhessen in der zweiten Kategorie ausgezeichnet. Die Würdigung ist mit 500 Euro dotiert. Sie selbst war bei der Preisverleihung übrigens nicht anwesend. Sie war einmal mehr ehrenamtlich im Einsatz, mit einer Gießener Flüchtlingsklasse in Berlin.