»Kleine fiese Dinge« erschweren Bildung

Gießener Allgemeine vom 09.12.2014

»Kleine fiese Dinge« erschweren Bildung
Tagung zu jungen Flüchtlingen – Wer erst Deutsch lernt, ist danach manchmal zu alt für die Schule

G i e ß e n (kw). Warum holen wir junge Spanier, Italiener oder Griechen mit großem Aufwand zur Ausbildung hierher, die vielleicht gar nicht nach Deutschland wollen – während es für diejenigen Jugendlichen, die schon bei uns sind, kaum Angebote gibt? Das fragte Annette Greilich, Leiterin der Gießener Friedrich-Feld-Schule, vor anderthalb Jahren in einem Gespräch mit Joachim Velten vom Bildungswerk der Hessischen Wirtschaft. Daraus entstanden ist das Kooperationsprojekt »Aida – Ab in die Ausbildung«, an dem neben den beiden Institutionen auch das Bildungswerk des Deutschen Gewerkschaftsbunds in Hessen beteiligt ist. Gerade junge Asylbewerber seien hochmotiviert, hieß es gestern bei einer Bilanz im Forum »Flüchtlinge, Migranten: Bildungsbeschleunigung – Die Chance zur Integration?« In der Aula der FFS wurden aber auch Hürden angesprochen, die das schnelle (Deutsch-)Lernen verhindern; von Fahrtkosten bis zu Altersgrenzen für den Schulbesuch.

Am Standort Gießen haben 50 Jugendliche, in Groß-Gerau knapp 20 in den vergangenen Monaten das deutsche Bildungssystem näher kennengelernt, erläuterten Velten und Birgit Groß, Leiterin des DGB-Bildungswerks. Viele hätten zuvor nur vage oder – angesichts ihrer Deutschkenntnisse derzeit noch – unrealistische Vorstellungen von ihrer beruflichen Zukunft gehabt. Bei Praktika und Betriebsbesuchen gewannen sie Orientierung. Etliche haben mittlerweile ihren Hauptschulabschluss an der FFS geschafft, die meisten gehen weiter zur Schule. Diese Projekte sollen weitergehen; ebenso wie diejenigen an der FFS, bei denen Gymnasiasten und Berufsfachschüler jungen Flüchtlingen vor allem beim Deutschlernen helfen.»Wir brauchen Praktikumsplätze und Kümmerer, die mit den Jugendlichen zum Beispiel zu Ämtern gehen«, sagte Schulleiterin Greilich. »Kleine fiese Dinge« drohten den Erfolg zu gefährden, etwa die Abschiebung in »sichere Drittländer« in der EU oder die fehlende  Fahrtkostenübernahme für FFS-Schüler, die in Landkreisgemeinden leben.

»Vieles ist noch ungeklärt«, sagte dazu Stadträtin Astrid Eibelshäuser. Allein zwischen Februar und Oktober dieses Jahres seien in Stadt und Kreis Gießen rund 250 Flüchtlinge im Alter zwischen sechs und siebzehn Jahren zugezogen – zusätzlich zu denen, die in Gießen in den Erstaufnahmeeinrichtungen untergebracht sind. Die Jüngeren gingen oft in die Grundschule vor Ort, für Größere gebe es Deutsch-Intensivklassen. Wer dort zunächst die Sprache lernen soll, habe danach oft schlicht aus Altersgründen Probleme, Anschluss an Schule und Ausbildung zu bekommen. Ihrer Ansicht nach müsse ein großer Teil des Deutschlernens zeitgleich zu Unterricht und Lehre stattfinden, sagte Eibelshäuser. Schulen müssten sich als bedeutsamer »Lebensort« für Flüchtlinge begreifen.

Lernen fördert Selbstachtung

Wer sich fremd und nicht gebraucht fühlt, verliert an Selbstachtung – und könnte in Null-Bock-Haltung, Kriminalität oder Islamismus abrutschen. Das sagte Franz Josef Wetz, Professor für Philosophie und Ethik an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd.  Bildungsangebote so schnell wie möglich seien der Schlüssel, »um anzukommen«. Anstrengung falle freilich leichter, wenn man weiß, dass man hier bleiben kann. Wetz begrüßte Überlegungen, »geduldete« Flüchtlinge nach einigen Jahren als Einwanderer anzuerkennen. Zugleich sprach er sich gegen Parallelgesellschaften und für die Einhaltung der Grundwerte aus.