Gießener Anzeiger vom Freitag, 7. Februar 2020, Seite 23

Ziel: Schneller in duale Ausbildung

„Einjährige Höhere Berufsfachschule“ wird ab Sommer 2021 an WSO und Aliceschule nicht fortgeführt / Unverständnis in Gießen

Von Benjamin Lemper

GIESSEN. Die „Einjährige Höhere Berufsfachschule“ hat keine Zukunft. Ab Sommer 2021 wird diese Schulform nicht mehr fortgesetzt. Der Beschluss des Hessischen Landtags stammt bereits aus dem Jahr 2017 und ergibt sich aus „aktuellen bildungspolitischen Entwicklungen“, teilt das Kultusministerium auf Anfrage mit. In Gießen stößt die Entscheidung auf Unverständnis. Betroffen wären davon die Wirtschaftsschule am Oswaldsgarten (WSO) und die Aliceschule. Dabei geht es vor allem auch um die Frage, wie schnell junge Menschen eine Ausbildung aufnehmen sollten und ob ein vollzeitschulischer Zwischenschritt dem Reifeprozess nicht zunächst noch dienlicher sein könnte.

An der WSO existiert dieses Angebot – neben anderen – im Bereich Wirtschaft („Höhere Handelsschule“) mit drei Klassen, die derzeit von 62 Schülern besucht werden, berichtet Schulleiterin Annette Greilich im Gespräch mit dem Anzeiger. An der Aliceschule ist es wiederum eine Klasse mit dem Schwerpunkt Ernährung und Hauswirtschaft, so Studiendirektorin Christiane Binz. Vorausgesetzt wird jeweils die Mittlere Reife. Diese kann dann zwar nicht verbessert werden, und es wird in dem einen Jahr auch kein weiterer Abschluss erworben. Ziel sei es vielmehr, den Einstieg in eine Ausbildung zu erleichtern, intensiver auf das Berufsleben vorzubereiten, fachtheoretische und allgemeinbildende Kenntnisse zu vertiefen, fachpraktische Fertigkeiten zu vermitteln und die Schüler einfach noch ein Stück weit „beim Erwachsenwerden zu unterstützen“, betonen Annette Greilich und Christiane Binz. Beide verweisen auf eine gerade in diesem Alter wichtige „Zeit der Orientierung und Qualifizierung“, in der die individuellen Bewerbungschancen optimiert werden könnten.

„Keine gute Idee“

Nach dem einen Jahr der zusätzlichen Betreuung mit ergänzenden Betriebsbesichtigungen, Exkursionen und Praktika würden fast alle Absolventen in eine Ausbildung wechseln. Stimmt der Betrieb zu, sei zum Beispiel eine Anrechnung auf eine kaufmännische Ausbildung denkbar. Bei guten Leistungen bleibe ferner die Option, danach noch die „Zweijährige Höhere Berufsfachschule“ zu absolvieren und so die Fachhochschulreife anzustreben.

Dass darauf künftig verzichtet werden müsse, sei für die interessierten Schüler und die Schule ein bedauernswerter Verlust, verdeutlicht Christiane Binz. Dass es sich folglich also um „keine gute Idee“ handele, sei auch in der Arbeitsgemeinschaft der Direktorinnen und Direktoren an den Beruflichen Schulen in Hessen, deren Vorsitzende Annette Greilich ist, wiederholt thematisiert worden. Schließlich könnten auch nicht einfach die Schüler „abgeschafft werden“. Der ausbildenden Wirtschaft sei diese seit vielen Jahren bewährte Schulform aber inzwischen ein „Dorn im Auge“. Die Wahrnehmung sei, „dass wir die Schüler festhalten und nicht rausrücken wollen“, so die WSO-Leiterin. „Ich bin jedoch froh über jeden jungen Menschen, der einen Platz in einer dualen Ausbildung erhalten hat.“

Bedenken ob der Pläne aus Wiesbaden kommen zudem von der Schülerschaft. „Die ‚Höhere Handelsschule‘ nützt vorrangig Schülerinnen und Schülern, die unentschlossen sind oder noch gar nicht wissen, was sie nach der Schule machen möchten, ihren Weg zu finden“, sagt etwa Stephania Haase, Jahrgangssprecherin der WSO. Bei der „Schüler Union Gießen“ wird insbesondere die Zusammenführung verschiedener Schulformen in der „Berufsfachschule zum Übergang in Ausbildung“ (BÜA) kritisch bewertet. Dies laufe einem vielfältigen Schulsystem mit individuellen Alternativen zuwider, meint der Kreisvorsitzende Jannis Gigler.

Im „Bündnis Ausbildung Hessen“ war zwischen Wirtschaft, Gewerkschaften, kommunalen Spitzenverbänden, Bundesagentur für Arbeit (Regionaldirektion Hessen) und Hessischer Landesregierung vereinbart worden, „dass Schülerinnen und Schüler verstärkt zu einer dualen Berufsausbildung hingeführt werden sollen“, informiert Philipp Bender, stellvertretender Pressesprecher des Kultusministeriums. Denn dies steigere die Perspektiven in deren Lebens- und Arbeitswelt und sei somit ein förderungswürdiges prioritäres Ziel. Ein weiterer Verbleib in einem vollschulichen System respektive eine „weitere Schleife“, obwohl die Aufnahme einer Ausbildung angesichts der erreichten Abschlüsse bereits möglich sei, werde dagegen „im Hinblick auf die gute bis sehr gute Gesamtsituation am Ausbildungsmarkt“ als „nicht erforderlich“ angesehen.

Schulversuch läuft

Darüber hinaus konzentriere sich die „Einjährige Höhere Berufsfachschule“ nahezu ausschließlich auf die Fachrichtung Wirtschaft (hessenweit 582 Schüler), so Bender weiter. Aber zum einen seien die Zahlen seit Jahren rückläufig. Zum anderen scheine in allen anderen Berufsfeldern dafür kein Bedarf zu bestehen. „Und es ist nicht zu erkennen, warum junge Menschen, die eine Ausbildung im kaufmännischen Bereich anstreben, noch ein weiteres Schuljahr benötigen, während diejenigen, die zum Beispiel einen gewerblich-technischen Beruf bevorzugen, direkt die Ausbildung beginnen.“ Eine Umsteuerung hin zu einer Begleitung in die Ausbildungs- und Arbeitswelt solle systematisch in dem seit 2017/2018 laufenden Schulversuch BÜA forciert werden. Zumal hier Einblicke in mindestens zwei berufliche Schwerpunkte gewährt würden. Die BÜA, in der ein Haupt- oder ein Realschulabschluss erlangt werden kann, fasst die „Bildungsgänge zur Berufsvorbereitung“, die „Zweijährige Berufsfachschule“ und die „Einjährige Höhere Berufsfachschule“ zusammen, da Doppelstrukturen kontraproduktiv seien und die „passgenaue Vermittlung“ erschwerten. Die Schüler bekämen einen differenzierten Unterricht und eine umfassende berufliche Orientierung. Zudem würden soziale und persönliche Kompetenzen gestärkt. Die ausbildende Wirtschaft, die zuständigen Kammern und die Agenturen für Arbeit wirkten ebenfalls „beim Gelingen dieses neuen Übergangs von der Schule in den Beruf“ mit, erläutert Philipp Bender.

In Hessen hatten sich seinerzeit 16 Berufliche Schulen und Schulverbünde beworben, die WSO gehörte nicht dazu. 3324 Schüler an zwölf Standorten sind nach Angaben des Ministeriums aktuell in den Schulversuch eingebunden, der ab 2021 noch ausgeweitet werden soll. Dann hofft auch Annette Greilich, dass sich die WSO daran beteiligen kann.