Nicole ist „die Nadel im Heuhaufen“
Noch als Schülerin ließ sich Nicole Schombert bei einer Typisierungsaktion an der
Friedrich-Feld-Schule registrieren. Jetzt war ihr Knochenmark gefragt. Foto: Atmaca
Gießener Anzeiger vom 25.01.2016, Seite 12
Gießen. Die Unsicherheit war groß, an ihrer Entscheidung hat sie dennoch zu keinem Zeitpunkt gezweifelt. Nicole Schombert ist 21 Jahre alt. Vor zwei Wochen hat die junge Frau Knochenmark gespendet. Und damit einem zweijährigen Mädchen die Hoffnung auf ein Leben gegeben.
Rund 11000 Menschen erhalten jedes Jahr in Deutschland die Diagnose Leukämie. Die einzige Aussicht auf Heilung ist oftmals eine Transplantation von Blutstammzellen. Während rund ein Drittel der Patienten im unmittelbaren Familienumfeld einen passenden Spender findet, sind zwei Drittel auf Fremdspenden angewiesen. Die Suche nach einem Spender gleicht dabei oftmals der Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Denn die sogenannten HLA-Gewebemerkmale des Spenders müssen nahezu zu 100 Prozent mit der des Erkrankten übereinstimmen. Um die Merkmale der Patienten mit potenziellen Spendern abgleichen zu können, sammelt das Zentrale Knochenmarkspender-Register in Ulm die Gewebemerkmale von Millionen Spendewilligen aus Deutschland und der Welt. 6,58 Millionen Menschen sind aktuell in Deutschland als potenzielle Spender registriert. Insgesamt hat die ZKRD Zugriff auf 27,73 Millionen Spender weltweit (Stand Q1/2016).
Mit dem Thema Stammzellenspende befasste sich Nicole Schombert erstmals, als einer ihrer Lehrer vor einigen Jahren an Leukämie erkrankte. 2012 organisierte die Friedrich-Feld-Schule, die die junge Frau damals besuchte, eine Typisierungsaktion und Schombert nutzte die Gelegenheit und ließ sich als Spenderin registrieren. Lediglich eine Blutprobe wurde ihr dazu entnommen. „Ich hab mir damals überhaupt keinen Kopf darüber gemacht, dass ich tatsächlich mal Spenderin werden könnte“, sagt die 21-Jährige, die heute als Bürokauffrau im Verlagshaus des Gießener Anzeigers arbeitet. „Es war für mich nur eine Registrierungsaktion.“ Tatsächlich spendet nur ein Bruchteil der registrierten Spender in seinem Leben Blutstammzellen. Während rund zehn Prozent der Spendewilligen zu weiteren Untersuchungen gebeten werden, werden am Ende nur einem Prozent der registrierten Spender tatsächlich Blutstammzellen entnommen. Für die Ersttypisierung ist zudem nicht unbedingt eine Blutentnahme notwendig. Viele lassen sich durch einen einfachen Wangenabstrich typisieren. „Stäbchen rein – Spender sein“, lautet ein weit bekannter Werbespruch der Deutschen Knochenmarkspenderdatei DKMS. Die Registrierung ist in der Regel für den Spendewilligen kostenlos. Da jedoch Laborkosten in Höhe von rund 50 Euro je Registrierung entstehen, wird oftmals um eine Spende gebeten.
Als Nicole Schombert im November vergangenen Jahres, fast vier Jahre nach ihrer Typisierung, einen Brief von der Deutschen Knochenmarkspenderdatei erhält, mit der Bitte, eine weitere Blutprobe beim Hausarzt entnehmen zu lassen und einzuschicken, kommt sie dieser Bitte unverzüglich nach. Überrascht war sie erst, als knapp vier Wochen später ein Anruf kam. „Mir wurde am Telefon gesagt, dass ich als Spender infrage komme“, erzählt die Bürokauffrau. „Ich war im ersten Moment überwältigt, man rechnet nicht mit sowas. Man hat mir dann auch gesagt, dass die operative Variante angefragt wurde.“ Außerdem erfährt sie die Termine für die Voruntersuchung und die Operation sowie den Ort: die MediaPark Klinik in Köln. Sämtliche anfallende Kosten werden von der Krankenkasse des betroffenen Patienten getragen, darunter fällt auch der Verdienstausfall, Reisekosten, Unterbringung sowie Verpflegung.
Ende Januar fährt die junge Frau zur Voruntersuchung nach Köln. Dort durchläuft sie zahlreiche Tests: Ultraschalluntersuchungen, EKG sowie die Überprüfung des Blutes auf bestimmte Krankheiten. Sie unterschreibt eine Einverständniserklärung und wird außerdem über den Ablauf und die Risiken der Operation aufgeklärt. Bei der Knochenmarkspende beschränkt sich das Risiko im Wesentlichen auf das allgemeine Narkoserisiko. Anders als viele glauben, wird bei der Knochenmarkspende kein Rückenmark aus der Wirbelsäule entnommen, sondern ein Knochenmark-Blutgemisch aus dem Beckenkamm. Innerhalb von zwei Wochen regeneriert das Knochenmark beim Spender vollständig.
Die Transplantation liegt nun zwei Wochen zurück. Nicole Schombert fühlt sich heute wohl. Folgen der Operation spürt sie nicht. „Nach der Operation hatte ich ein Prellungsgefühl“, erzählt sie. In der ersten Nacht habe sie deshalb nicht auf dem Rücken schlafen können. Seitdem merke sie aber nichts mehr. Einen Tag verbringt sie nach der Operation im Krankenhaus und wird danach wieder entlassen, mit einer Krankschreibung für fünf Tage.
Für sie war es nur ein vorübergehendes Prellungsgefühl, für den Empfänger kann die Spende jedoch ein neues Leben bedeuten. Während der gesamten Vorbereitungsphase steht es dem Spender dennoch jederzeit frei, seine Entscheidung zu widerrufen. Etwa eine Woche vor dem Operationstermin beginnen Ärzte jedoch mit der Vorbereitung auf die Transplantation. Dabei wird das erkrankte blutbildende System des Empfängers vollständig zerstört. Sollte der Spender zu diesem Zeitpunkt seine Spendebereitschaft zurückziehen, wären die Folgen für den Patienten fatal. „Ab diesem Zeitpunkt kann der Patient ohne nachfolgende Übertragung Ihrer Stammzellen nicht überleben“, schreibt die DKMS auf ihrer Internetseite. Nicole Schombert hatte keine Zweifel an ihrer Entscheidung. „Es war meine erste Operation“, sagt Schombert. Entsprechend unwohl habe sie sich gefühlt. Aber sie wusste, dass sie damit einem Menschen hilft. „Es ist schön, ein Menschenleben retten zu können“, sagt sie. „Und wenn es dann noch ein kleines Kind ist, das sein Leben noch vor sich hat, ist das noch viel überwältigender.“ Erst nach der Operation hat die junge Frau erfahren, dass es sich beim Empfänger um ein zweijähriges, russisches Mädchen handelt.
Die Blutstammzellentransplantation verläuft in Deutschland anonym. Spender und Empfänger dürfen sich vor der Operation nicht kennenlernen. „In drei Monaten erfahre ich, wie es dem Mädchen geht und ob sie meine Spende gut angenommen hat“, erklärt Schombert. Danach könne sie mit der Familie des Mädchens anonym in Kontakt treten. Die Briefe werden von der DKMS weitergeleitet. Erst zwei Jahre nach der Transplantation dürfen sich Spender und Empfänger, sofern beide Seiten es wünschen, persönlich kennenlernen. Nicole Schombert weiß noch nicht, ob sie den Kontakt zu der Familie suchen wird. „Das werde ich dann spontan entscheiden, wenn ich erfahren habe, wie es dem Mädchen geht“, sagt sie. Ob sie sich Gedanken darüber macht, dass das Mädchen die Spende nicht gut aufnimmt? Die junge Frau zögert kurz. Mit leiser Stimme spricht sie schließlich: „Ich wüsste nicht, was ich der Familie dann schreiben sollte.“
Jährlich werden über 6000 Transplantationen mit einem deutschen Spender durchgeführt. Nicht immer ist eine operative Transplantation notwendig. In rund 80 Prozent der Fälle entscheiden sich die Ärzte für eine periphere Stammzellspende. Dabei werden dem Spender Stammzellen direkt aus der Blutbahn entnommen, nachdem man ihm zuvor über fünf Tage das Wachstumspräparat G-CSF verabreicht hat. Dadurch werden Stammzellen vermehrt in das Blut geschwemmt. Die periphere Stammzellenspende gleicht dann einer einfachen, nur länger dauernden Blutspende. An zwei aufeinanderfolgenden Tagen wird dem Spender über mehrere Stunden Blut entnommen, die Stammzellen werden isoliert, bevor das Blut dem Spender wieder zugeführt wird.
Die Blutgruppe des Spenders ist dabei, genau wie bei der Knochenmarkspende unerheblich, da der Empfänger anschließend die Blutgruppe des Spenders annimmt.
Nicole Schombert ist glücklich, dass sie einem Mädchen und seiner Familie helfen konnte. „Wenn man selbst vielleicht irgendwann erkrankt, ist man auch froh, jemanden zu finden“, sagt sie. Ihr Umfeld, Familie, Freunde und Kollegen, haben ihre Entscheidung äußerst positiv aufgenommen, viele haben ihr gratuliert. Für sie steht fest: Es war die Richtige.