„Den »homo oeconomicus« gibt`s nicht“

Diskussionsbedarf: Referent Jürgen Hardt, Klaus Bonkowski, Abteilungsleiter Holger Volkwein, Edeltraud Alavi und Claus Waldschmidt vom Förderverein (v.l.) Foto: Ewert

Gießener Anzeiger vom 25.11.2015, Seite 9

Psychoanalytiker Jürgen Hardt zu Gast an der Friedrich-Feld-Schule/Thema: Wirtschaft und Moral – Ein Widerspruch?

GIESSEN (ewe). Bereits der Titel des Vortrags machte neugierig: „Wirtschaft und Moral – ein Widerspruch?“ Das Thema des Referats des Psychoanalytikers und Organisationsberaters Jürgen Hardt aus Wetzlar, zu dem der Förderverein der Friedrich-Feld-Schule (FFS) Gießen vor allem Schüler des Wirtschaftsgymnasiums eingeladen hatte, interessierte gut 50 meist junge Zuhörer, die vom neuen Fördervereinsvorsitzenden Claus Waldschmidt und seinem Vorgänger Klaus Bonkowski begrüßt wurden.

Wirtschaft und Moral – ein Widerspruch? Laut Hardt „ja und nein“. Differenzierung sei dringend geboten. Vieles spreche für ein Ja, schaue man sich die „Unregelmäßigkeiten und Schweinereien“ an, die aktuell auch eine hohe publizistische Brisanz nach sich ziehen. Der VW-Abgasskandal etwa, bei dem sich „Europas größter Autobauer als Betrüger“ erweise, sei erschütternd. Zumal Unschuldige die Leidtragenden sein werden, die Arbeitnehmer nämlich, die ihren Arbeitsplatz verlieren, weil gespart werden müsse. Wo bleibe die Moral des zurückgetretenen VW-Chefs Winterkorns, der nicht erkennen lasse, dass er als Ergebnis des von ihm eingeräumten „ungeheuren Versagens“ zumindest einen kleinen Teil des Schadens aus seinem Vermögen übernehmen wolle, fragte der Referent. Die Deutsche Bank hingegen schließe „aufgrund ihres Versagens“ Filialen. Dann noch „die Korruption bei der FIFA“. Und grundsätzlich die „ungeheuerlichen Vorgänge, die zur globalen Finanzkrise geführt haben, unter der wir bis heute leiden“, zählte Hardt Beispiele auf. Dabei reiche es nicht, nur nach Verantwortung und Kosten zu fragen, „die moralische Dimension ist eine viel größere“, betonte er.

Moral sind laut Hardt jene Regeln und Normen eines als richtig erkannten Verhaltens, von Überzeugungen und Haltungen, die sich Menschen in gemeinsamem Kontext auferlegen und einzuhalten suchen, um Schaden von der Gemeinschaft abzuwenden. „Wirtschaftliches Denken“ sei heute nicht mehr auf die Ökonomie beschränkt, sondern habe sich auf alle Lebensbereiche ausgedehnt und durchziehe sie. Diese Entwicklung habe sich seit Ende der 1970er Jahre abzuzeichnen begonnen, berichtete der Experte. Im weiteren Verlauf habe sich dann die soziale Marktwirtschaft in eine „entfesselte“ Marktwirtschaft verwandelt, ohne jegliche Beschränkungen, die auch dem gut gemeinten politischen Handeln Grenzen setze.

„Die Begriffe Wirtschaft und Moral liegen im Widerstreit und es gibt keine politische oder richterliche Instanz, die diesen Widerstreit entscheiden könnte“, stellt der Psychoanalytiker fest. Um zugleich auf eine Bewegung in den USA namens „plurale Ökonomik“ hinzuweisen, die diesen Widerstreit in den Griff bekommen möchte mit dem Ziel: weg von der Ökonomisierung aller Bereiche. Für Deutschland und Europa hofft Hardt, dass viele junge Menschen dafür Sorge tragen werden, „dass Wirtschaft wieder menschlicher wird“. Denn das Denkmodell und das Menschenbild des „homo oeconomicus“, also eines stets rational denkenden Menschen, der auf die Kräfte des Marktes vertraut und sich diesen ausliefert, sei reine Theorie. Der „homo oeconomicus“ sei damit ein „Mensch“, der in der Realität so nicht vorkomme.