Junge Flüchtlinge haben Zukunftspläne

Der 16-jährige Shahid Omar erzählt in einer Fotoausstellung gemeinsam mit Mitschülern seine Geschichte. (Foto: cst)

Gießener Allgemeine vom 23.09.2014

Junge Flüchtlinge haben Zukunftspläne

Auftakt zur Interkulturellen Woche mit Fotoausstellung – Schüler wenden sich gegen Abschiebung eines Klassenkameraden nach Indien

G i e ß e n (cst). Sie stammen aus Sierra Leone, Afghanistan oder dem Kosovo. Sie sind nach Deutschland geflohen und haben in Gießen ihren Hauptschulabschluss gemacht.
Sie sprechen deutsch und haben Freunde gefunden. Sie, das sind sieben jugendliche Flüchtlinge, die sich nun mit ihren deutschen Mitschülern gegen die Abschiebung eines Klassenkameraden wehren. Denn Karan Kumar soll zurück nach Indien. Aus diesem Grund erarbeitete die ehemalige Klasse der Willy-Brandt-Schule mit den Schulpfarrern Markus Ihle (Theodor-Litt-Schule) und Beate Allmenröder (WBS) eine Fotoausstellung, mit der am Sonntag die Interkulturelle Woche in der alten Kunsthalle eröffnet wurde.
»Es geht darum, den Flüchtlingen ein Gesicht zu verleihen«, erklärt Ihle, der die Fotos schoss. Sie zeigen Rebecca, die nicht an ihr Leben in Afrika denken will, weil sie das traurig macht. Oder Shahid, der sich über Film-Altersgrenzen wundert. »In Afghanistan haben wir Kinder jeden Tag viel schlimmere Sachen gesehen – in echt.« Oder Karan aus Indien, der die Klasse mit seiner bewegenden Geschichte und bevorstehenden Abschiebung wachrüttelte.
»Karan würde uns fehlen – eine Klasse fragt nach ihren Flüchtlingen« heißt die Ausstellung, mit der Stadträtin Astrid Eibelshäuser und Kreisbeigeordneter Dirk Haas die Interkulturelle Woche eröffneten. Sie widmeten sich somit gleich einem Kernproblem der Flüchtlingspolitik in Deutschland und besonders in der Stadt Gießen. Denn hier, wo die Hessische Erstaufnahmeeinrichtung beheimatet ist, sei die Situation gerade jugendlicher Flüchtlinge kritisch. Das belegen die Schilderungen der Erziehungsleiterin der Clearing Gruppen beim Caritasverband, Taraneh Ghasemi. So sei die Verweildauer der Flüchtlinge auf mittlerweile durchschnittlich 121 Tage gestiegen – fast doppelt so viel wie im vergangenen Jahr. Dabei sind im Clearing Verfahren nur die verwaltungsrechtlichen und organisatorischen Abläufe unmittelbar nach der Einreise eines unbegleiteten Minderjährigen vorgesehen.
Ghasemi fordert: »Es müssen hessenweit neue Folgeeinrichtungen geschaffen werden – auch von anderen Trägern.« Beeindruckender noch als die nackten Zahlen wirkten die Geschichten, die Schüler der Theodor-Litt-Schule beispielhaft vortrugen. Sie haben in Deutschland Fuß gefasst, wollen bleiben und haben Ziele. Osman etwa ist seit 2013 in Gießen, spricht gut deutsch und will seinen Realschulabschluss schaffen. Amir strebt eine Ausbildung an, Francis plant berufsbildende Maßnahmen, Delvin macht sein Fachabitur im Bereich Informatik. Er will dann studieren, doch nun »schicken sie mich vielleicht zurück nach Kenia«. Die Stille in der alten Kunsthalle ist mit Händen zu greifen, als die schüchtern anmutenden Jugendlichen über ihre Zukunft sprechen. Über ihre Vergangenheit hingegen schweigen sie. Welch bewegtes Leben sie möglicherweise hinter sich haben, schildert der Jugendpsychiater Klaus-Dieter Grothe in seinem Vortrag »Fluchtursachen und -wege von jugendlichen Flüchtlingen«. Nahezu alle Betroffenen hätten traumatische Erfahrungen hinter sich. Jede Flucht habe »nicht nur politische, sondern ganz persönliche Gründe«. In Deutschland seien die Jugendlichen dann häufig mit Vorurteilen konfrontiert. »Wie sollen sie anderen erklären, dass man seine Heimat liebt, wenn man sich gleichzeitig für die schreckliche Seite der Heimat schämt?«, fragte Grothe.
Politik, Schulen und Verbände versuchen den Jugendlichen in Deutschland »aktiv eine Zukunft zu bieten«, sagte die Schulleiterin der Friedrich-Feld-Schule, Annette Greilich. Sie hätten »ein Recht auf Bildung« und bräuchten eine Perspektive auf dem Arbeitsmarkt. Die vierte Schule, an der in Gießen Flüchtlinge in besonderen Klassen unterrichtet werden, ist die Aliceschule.
Mit der Interkulturellen Woche unter dem Motto »Gemeinsamkeiten finden, Unterschiede feiern« schafft die Stadt Gießen bis zum kommenden Sonntag nun unter anderem auch ein Forum für Flüchtlinge. Das komplette Programm steht im Internet unter www.interkulturelles-mittelhessen.de.